Es gibt Bücher, die man im Abstand vieler Jahre vielleicht noch einmal lesen sollte … gar neu entdecken kann. Und Luise Rinser (geb. 1911, gest. 2002) gehört zu genau diesen AutorInnen, deren Bücher ich als Jugendlicher regelrecht verschlungen habe und die mir leider nur wenig im Gedächtnis geblieben sind. Schemenhaft tauchen einige Gestalten und Erzählstränge auf, wenn ich an „Mitte des Lebens“ oder die „Geschichten aus der Löwengrube“ denke („Wer wirft den ersten Stein“); dann weiß ich, daß mir die Texte heute vermutlich viel mehr geben würden als vor dreißig Jahren – Literatur wächst immer auch zusammen mit dem Leser. Zumal ich mich heute sicher mehr auf den Inhalt konzentrieren könnte und nicht so leichtfertig und oberlehrerhaft kritisch zwischen den Zeilen herauszulesen versuchte, was längst wissenschaftlicher Konsens ist: Luise Rinsers Rolle während der NS-Zeit bleibt umstritten und schmälert dennoch nicht ihre Texte. Es ist eine Sprache, die unheimlich packend und dicht ist, die mich faszinierte und in ihren Bann zog. Heute finde ich es nicht mehr interessant, ob jemand an seiner Biographie feilte (wohl jeder Lebenslauf ist leicht frisiert und geschönt), sich unkritisch großen Führerfiguren gegenüber verhielt – „Nordkoreanisches Reisetagebuch“ – und in jungen Jahren ein Loblied auf den Führer geschrieben hatte. Heute könnte ich mich auf das konzentrieren was Literatur im Kern ausmacht: Die Geschichte.
„DER SCHWARZE ESEL“ gehört zu den spät erschienenen Büchern und ich würde behaupten, die Erzählung ist deutlicher und ehrlicher als viele ihrer anderen, früheren Werke. Das Buch ist vielleicht nicht so bekannt, doch es fällt total aus dem Rahmen, bricht mit der elenden Tradition, sich im Geiste ihrer Protagonistinnen einem starken Führer anzubiedern und in dessen Nähe zu wachsen – von ihrem Hitlerwahn dürfte sie ohnehin schneller geheilt worden sein als gedacht, nachdem sie nach erfolgter Denunziation für zwei Monate im Frauengefängnis eingesessen hatte. Es folgten später Karl Rahner (bedeutender Theologe), Ernst Jünger und Kim il Sung, der Dalai Lama und selbst vor Jesus machte diese Führerhörigkeit nicht halt. Vorbei ist es damit erst im Roman DER SCHWARZE ESEL, vorbei ist es mit dieser katholischen Askese und der Glaubenshörigkeit, vorbei ist es mit der fortdauernden Ambivalenz aus Fiktion und Autobiographie. Diesmal geht es nicht um eine einzelne Gestalt, eine Frauenfigur, sondern gleich um vier alte Frauen (der Roman ist eine Fortsetzung des Frühwerkes DIE STÄRKEREN VON 1948), die nun gut 70 Jahre alt sind und deren Lebenswege sich unverhoft wieder kreuzen. Wenn man mich fragt, welches Buch von Luise Rinser ich empfehlen würde, dann mit Sicherheit den SCHWARZEN ESEL. Weil ich es unglaublich spannend finde, wie die Puzzelteile der vier Leben sich Stück für Stück zusammensetzen, ein Bild ergeben und mir dieses Bild nicht moralisch vorsortiert auf dem Tablett serviert wird. Keine langweilige Unterscheidung in gut und böse, in Heilige und Sünder … der eigene Kopf erzeugt ein Bild und folgt in eine Geschichte voller Überraschungen und ich weiß Luise Rinser mit Sicherheit an meiner Seite, wenn ich z.B. den Begriff Freundschaft als viel zu oft unklar, oberflächlich und spannungslos interpretiert und gelebt empfinde. Manche Dinge sind einfach nicht verhandelbar; denn fallen Unverbindlichkeiten und Oberflächlichkeiten erst einmal ab, stehen die Figuren merkwürdig einsam und leer. Es ist der Moment der selbst-Erkenntnis, welcher oft spät kommt und der einer Reise gleicht. Dann fallen Sicherheiten und Gewißheiten in kleine Stückchen auseinander, die darauf warten neu geordnet zu werden und am Ende heißt es: „So eine Fahrt macht man nur einmal im Leben“.
DER SCHWARZE ESEL