1.6.16 – der zehnte Wandertag auf dem GR 70
Inzwischen ist Armand aufgestanden und entpuppt sich als großer Katzenfreund; das Katzentier selber allerdings als ordentlicher Raufbold, doch das soll meine Sorge nicht sein. Ich bemuttere meinen Narzisse und prüfe etwas sorgenvoll seine Hufe, die sich im Verlauf unserer Tour deutlich abgelaufen haben. Es ist alles ok, aber ich entscheide mich für die kürzere Strecke, nehme ihm noch etwas Gewicht ab und nach einer herzlichen Verabschiedung geht es sofort los in Richtung Cassagnas. Der Graue läuft ohne jedes Kommando, ohne Führstrick und Stöckchen neben mir, gemeinsam schlendern wir dahin und folgen diesmal nicht den Anweisungen der Routenbeschreibung, sondern gehen kurz hinter dem Dorfeingang auf die Straße, die in einer Haarnadelkurve rechts abbiegt und uns somit erstmal unterhalb des Gites fast zurücklaufen läßt. Ein Herr bestätigt die Richtigkeit des gewählten Weges und obwohl wir auf einer kleinen, alten Straße ins Tal laufen, kann ich diesen Weg nur empfehlen. Niemand außer uns ist auf der Straße unterwegs und keinem Auto mußten wir ausweichen. Alles, was in den letzten Tagen noch im Kopf hin- und herbewegt wurde, was ich immer wieder neu durchdachte und mitschleppte, ist wohl irgendwo da oben in den Bergen geblieben und jetzt läuft es sich so ungemein fröhlich und beschwingt. Der Eselkopf neben mir pendelt leicht hin und her, ganz so als wolle er zustimmend nicken und ich überlege kurz, ob es ein gutes Zeichen ist, daß der Kopf nach zehn Tagen Wanderung leer ist. Endlich leer. Gab es nicht mehr, was bedenkenswert erschien? Ist das alles? Sollte es da nicht mehr geben? Umsäumt von Wiesen und Wäldern, die zugleich etwas Schutz vor dem Nieselregen bieten, laufen wir zügig bergab, im Tal rauscht ein kleiner Bach und die Kastanienwälder zeigen das schönste Grün. Castanea sativa, die Ess- oder Edelkastanie, gibt es zwar in ganz Südfrankreich, doch hier in den Cevennen wurden die Kastanien seit dem Mittelalter großflächig angepflanzt und die häufig anzutreffende Bezeichnung Brotbaum verdeutlich ihre regionale Bedeutung. Interessant finde ich die Zugehörigkeit der Edelkastanie (Gattung Castanea) zur Familie der Buchengewächse Fagaceae. Die Nussfrüchte, die Kastanien, enthalten viel Stärke und sind damit nahrhaft, was Mensch und Tier erfreut. Gekocht, gegrillt, oder roh, gar eingelegt und auch zu Mehl vermahlen, als Brotaufstrich und Marmelade, die Blätter für das liebe Vieh und aus dem Holz der Bäume konnte alles hergestellt werden, was irgendwie notwendig war. Allein die geringe Anbaufläche an den Berghängen war für jede Art von Landwirtschaft ein Problem und so finden sich bis heute die typischen, von kleinen Steinmauern abgegrenzten Terrassenfelder. Mir gefällt das leuchtende Grün der gezackten Blätter und wer schon einmal eine so richtig alte Kastanie gesehen hat, wird wissen, wie groß die Bäume werden können und wie ehrwürdig sie erscheinen. Das Wetter wird besser und besser, der Nieselregen setzt für immer größerwerdende Phasen aus und wir kommen unglaublich schnell voran. Nassis frißt zwar unentwegt, doch er ist wieder zur Technik des Freßlaufens übergegangen und bleibt nur selten stehen. Noch einmal kontrolliere ich seine Hufe und überlege, ob die restliche Strecke zum Problem werden könnte. Im Moment jedoch ist alles in Ordnung und Nassis läuft prima. Schnell sind wir in St. Julien d‘ Arpaon, treffen einen liebenswerten Herrn, der die Gelegenheit nutzt um sein eingerostetes Deutsch auszuprobieren und spazieren durch die alte Burgruine. Das Örtchen, ein kleiner Weiler, liegt oberhalb des Stevensonweges und wird leicht übersehen. Doch wir sind derart schnell und haben es nicht mehr weit, daß ich mich zu dem kleinen Umweg entschließe. An diesem Punkt der Wanderung stoßen wir wieder auf den markierten Stevensonweg – Mijavols, unser letztes Ziel, lag ja etwas abseits von der üblichen Route – und laufen jetzt auf der alten Eisenbahntrasse weiter.
Die Mimente rechts unter uns schlängelt sich durch ein malerisches Tal und ich nutze das inzwischen schöne Wetter für ein kühles Bad. Das Wasser ist klar und leuchtet in den tollsten Farben und kleine Wasserfälle gibt es auch. Die Leichtigkeit und Schönheit dieser Tour scheint eine Art Belohnung für die Strapazen der vorangegangenen Etappen zu sein und erst jetzt nach mehr als fünf Stunden treffen wir auf andere Wanderer. Doch heute darf allein Narzisse das Tempo bestimmen (ob er deshalb so rennt? Hej mein Freund, dies soll eine Wanderung sein, ein gemeinsamer Spaziergang. Von Dauerlauf war nicht die Rede) und niemand ist schneller als wir. Nur eine Sekunde später wechselt er ohne jede Vorwarnung in einen flotten Galopp, spurtet über eine kleine Wiese auf eine Gruppe von drei Wanderern zu, die auf Baumstämmen sitzend beim Picknick sind. Ok denk ich mir, er wird wohl nachschauen wollen, was die Herrschaften auf ihren Broten haben. Ich lasse ihn laufen, weil mein Süßer freundlich begrüßt wird und es scheint, als hätte man ihn längst erwartet. Vielleicht schmeichelt es auch ein wenig, wenn ein Esel angetrabt kommt und sein Interesse bekundet. Der Kumpel von einem Esel zu sein hat was. Doch Vorsicht bei der Interpretation eselischer Ausdrucksformen, weil aus Freude leicht Entsetzen wird und Interesse durchaus in Peinlichkeit umschlagen kann. Narzisse stellt sich ins Zentrum des Picknicks, entspannt sich und läßt es laufen. Er pißt und pißt und pißt. Ich könnte im Boden versinken und eile, um ihn von dort wegzuholen. Allein es ist zu spät. Schämst du dich denn gar nicht? Was soll denn das? Ich entschuldige mich umständlich und während sich die Leute neue Plätze suchen, schleife ich meinen Esel zurück auf den Weg. Mein Gott, was war denn das für eine Aktion? Wie kommt ein Tier auf so eine verrückte Idee? Wir ziehen eilig weiter und es dauert Minuten, bis ich mich wieder an der Schönheit der Landschaft erfreuen kann und Narzisse scheint sich durch Einsatzbereitschaft entschuldigen zu wollen.
Er läuft neben mir her und drückt manchmal seinen Kopf gegen meinen Arm – ist alles gut mein Süßer? Sein Kopf pendelt leicht im Rhythmus der Schritt hin und her und er legt noch einen Zahn zu. Wir schaffen gute 5km in einer Stunde und sind noch vor 12 Uhr im Espace Stephenson, der nächsten Unterkunft, die ca. drei Kilometer unterhalb von Cassagnas liegt. Für Narzisse das Ende der Reise, aber das sage ich ihm noch nicht. Seine Hufe sind am Ende und es wäre unverantwortlich, ihn noch weiter laufen zu lassen – diesen Entschluß faßte ich während der letzten Stunden. Ich höre lieber auf, so lange er sich noch wohlfühlt. Ein unachtsamer Schritt, ein scharfkantiges Steinchen und leicht könnte er Schmerzen haben und verletzt werden. Gedanken, die ich nur schwer ertrage. Damit entfällt die letzte Etappe und Marie kann uns auch hier in Cassagnas abholen. Ich kenne den Zielort von früheren Reisen, habe nicht das Gefühl etwas zu verpassen, mein Ziel nicht erreicht zu haben. Stattdessen freue ich mich auf einen faulen Tag ohne Ziel. Ich werde bei meinem Narzisse sein, Tagebuch schreiben, schlafen und viel essen … so der Plan. Die Eselkoppel ist wunderbar, der kleine Hotelwuffi freut sich über den großen Freund und ich nehme, da das Zimmer noch nicht fertig ist, vor der Bar Platz.
Die junge Dame spricht leider nicht ein Wort englisch, Internet für Gäste gibt es nicht, das Telefon hier unten im Tal ist nichts weiter als ein Fotoapparat und als nach über einer halben Stunde das Zimmer benutzbar ist, sind auch hier die Heizkörper kalt. Ich dusche, sehe mich morgen schon wieder in feuchten Schuhen und Klamotten, fange wieder an mich zu ärgern und entdecke den gelben Dreckrand am unteren Ende des Duschvorhanges. Mein Gott, dies hier ist keine einfache Hütte in den Bergen, die nichts weiter tun soll als den Wanderer vor den Unbilden der Natur zu schützen, dies ist ein Hotel und in der Hoffnung auf etwas Wärme und Verbindung in die Außenwelt, laufe ich die vier Kilometer nach Cassagnas, wo man bei Lichte betrachtet auch nicht tot überm Zaun hängen möchte. Wozu dieses Nest eine öffentliche Toilette hat wird mir ein ewiges Rätsel bleiben; immerhin, es gibt eine Post. Ein Cafe, eine Bäckerei, irgend etwas, was die Sinne frohstimmt und für Frieden sorgt ist nicht zu finden und ich bin schon wieder auf dem Rückweg, als mich ein Mann über seinen Zaun hinweg anspricht und fragt, ob er mir helfen könne. Er freut sich mich zu sehen, schaltet sofort um auf englisch, seine Frau öffnet die Tür und schon sitze ich in der guten Stube, habe Internet für die nötigen eMails bezüglich des Rücktransportes aus Cassagnas, informiere Marie über den Zustand des Tieres und gleichzeitig wird mir etwas warm – ums Gemüt. Sie sind nett die Franzosen. Zurück im Hotel stelle ich fest, daß einer der beiden Zimmergenossen es geschafft hat einen alten Ölradiator aufzutreiben. Das Zimmer ist warum und nun wasche ich doch fix meine schmutzigen Sachen und lege mich für ein Stündchen hin, bis mich Narzisses‘ I Aahh aufweckt. Vor seiner Koppel stehen gut 10 Leute die ihn freudig streicheln, was mich daran erinnert, daß er heute noch nicht gestriegelt wurde (einen nassen Esel darf man nicht striegeln). Der Gute läßt sich die Fellpflege sichtlich gefallen, hält mir inzwischen bereitwillig die abgelaufenen Hufe hin und ich überlege, ob er den Rest der Tour nicht doch noch ohne Probleme geschafft hätte. Es sind nur noch 35 km bis ins Ziel, der Weg ist weich und größere Anstrengungen sind nicht mehr zu erwarten. Aber nein, ich will kein Risiko eingehen und ich kenne St. Du Gard sehr gut. Der Esel war mir trotzdem ein treuer und lieber Begleiter und meine Reise wird so ein besseres Ende nehmen, als wenn ich mich später ständig fragen würde, ob ich dem Tier zu viel zugemutet, ihn gar gequält hätte. So ist es auch gut. Nein, wir werden heute und morgen schön faulenzen und danach geht es für uns in Auto und Hänger zurück nach La Plagnal, wo er erstmal Urlaub von den Strapazen der Reise machen kann und ich mich verabschieden muß. Über all diesen Gedanken ist mein Ärger verflogen und ich setze mich runter vor die Bar, wo es einen kleinen Tisch mit Ausblick auf meinen Esel gibt. Der Espresso ist, wie schon auf der ganzen Reise, lausig und verdient den Namen wirklich nicht. Aber als Kaffee ist er ok und die letzte Stunde bis zum Abendbrot wird schnell vergehen. Ich entdecke im Nacken der jungen Dame die kein Wort englisch spricht die Tätoowierung „Love is a Battlefield“ bestelle mir eine Cola und beschließe, mich einfach zu freuen. Noch dreißig Minuten bis zum Abendbrot, durchs Fenster beobachte ich meinen Esel wie er friedlich sein Stroh kaut, werde immer wieder von Wanderern angesprochen, die mir die Bilder von uns auf ihren Telefonen zeigen und klebe Briefmarken auf Postkarten. Ob die Leute wohl vor zehn Tagen auf diesen erfolgreichen Abschluß der Wanderung gewettet hätten? Der Tag, der mit Sturm und Regen begann, endet in den freundlichsten Farben und das Abendbrot, ein überreichliches Buffet mit zahlreichen lokalen Spezialitäten, ist wunderbar, Annabel die Chefin stellt mir am Ende gar ihren eigenen Computer hin, damit ich die wichtige Korrespondenz erledigen kann und während ich an der Bar sitze und noch einen Pernod trinke, ertönt aus dem Speiseraum schöner Gesang. Die große Reisegruppe, die mir schon einen Rotwein spendierte, hat angefangen Volkslieder zu singen, dann folgen Gedichte und Geschichten, einzelne Mitglieder tragen etwas vor und es wird reichlich gelacht. 21 Uhr gehe ich überglücklich ins Bett.